Die Hilotherapy: Vermeidung der Chemotherapie-induzierten Polyneuropathie (CIPN) durch ein neues Thermoheilverfahren
Von Dr. rer. nat. Trudi Schaper
Veröffentlicht im Magazin „Leben“, Ausgabe 1/2020
Melanie W. hat ein aggressives, triple-negatives Mammakarzinom und muss mit einer Chemotherapie behandelt werden. Die Chemotherapie ist wohl die Therapie in der Behandlung von Krebserkrankungen, die von den Patientinnen am meisten gefürchtet wird. Zunächst ist es die Angst vor Übelkeit, Erbrechen, akuten Infektionen und Haarausfall, die im Vordergrund für die Patientinnen steht. Zuletzt ist es aber die Sorge vor der Entwicklung von schmerzhaften Nervenschädigungen an Händen und Füßen, der sogenannten Chemotherapie-induzierten Polyneuropathie (CIPN), einer Langzeitkomplikation, die die Lebensqualität der Patientinnen auf lange Zeit oder irreversibel negativ beinträchtigen kann.
Zu Recht: Melanie hatte gerade ihre fünfte taxan-platinhaltige Chemotherapie erhalten, als sie heftige Schmerzen, Brennen an Händen und Füßen, Kribbeln und Taubheitsgefühl entwickelte. Ihre Sorge war groß, denn sie musste noch sieben weitere Infusionen durchhalten.
Bleibende Schäden
Während sich die Patientinnen von vielen Nebenwirkungen nach Abschluss der Chemotherapie schnell erholen, handelt es sich bei der CIPN – der Chemotherapie-induzierten Polyneuropathie – oft um eine Langzeitkomplikation, die über Jahre anhält und die Lebensqualität der Patientinnen maßgeblich negativ beeinflusst. Sie geht einher mit Schmerzen, Brennen an Händen und Füßen, Kribbeln und Sensibilitätsverlust (Taubheitsgefühl), teilweise verbunden mit Problemen bei der Bewegungskoordination und dem Gleichgewicht.
Im Vordergrund stehen jedoch Missempfindungen und Schmerzen. In Zusammenhang mit entzündlichen Hautreaktionen an Händen und Füßen tritt als Sonderform das sogenannte Hand-Fuß-Syndrom auf. Die Beschwerden sind vielfältig: schmerzhafte Rötungen, Brennen, teilweise mit Hautabschürfungen, übermäßiges Schmerzempfinden und später auch Taubheitsgefühl.
Die CIPN tritt besonders bei Patientinnen auf, die mit taxanhaltigen Medikamenten, beispielsweise Paclitaxel behandelt werden. Aber auch andere Medikamente aus der Krebsbehandlung, wie Platinanaloga (Cisplatin, Oxaliplatin, seltener Carboplatin), Vinca-Alkaloide (vor allem Vincristin, seltener auch Vinorelbin) oder 5-Fluoropyrimiden (5-FU) können zu entsprechenden Ausprägungen führen.
Beim Auftreten akuter Symptome während der Chemotherapie müssen oft die Therapieintervalle verlängert, die Dosis reduziert oder im schlimmsten Fall sogar die Chemotherapie abgebrochen werden. Dies kann den langfristigen Therapieerfolg negativ beeinflussen. Die Problematik der Polyneuropathie ist offensichtlich.
Kühlung bringt Linderung
Seit Oktober 2016 führt die Selbsthilfegruppe ISI e. V. – Internationale Senologie Initiative – ein Projekt durch, bei dem Brustkrebspatientinnen vorbeugend Hände und Füße während der Chemotherapie mit einem Kühlgerät kühlen. Die Patientinnen werden nach jeder Chemotherapiegabe zu ihren Nebenwirkungen befragt. Die Ergebnisse werden dokumentiert und ausgewertet.
Um in der Medizin unerwünschte Nebenwirkungen einer Therapie einschätzen zu können, bedient man sich der sogenannten Toxizitätsgrade nach den Common Toxicity Criteria – CTC, gleich Allgemeine Toxizitätskriterien.
Abstufungen
- Grad 0 besagt, dass keine Nebenwirkungen bestehen.
- Grad 1 beeinflusst das Alltagsleben der Patientin nicht. Ggf. werden erste Symptome der Polyneuropathie wie Überempfindlichkeit auf Reize und beginnendes Kribbeln an Händen und/oder Füßen beschrieben.
- Grad 2 Es kommen Brennen oder ein leichtes Taubheitsgefühl mit Empfindungsstörungen hinzu. Es sind Beschwerden, die die Aktivitäten der Patientin im täglichen Leben beeinträchtigen. Schon jetzt können einfache, feine motorische Fähigkeiten, wie das Öffnen einer Wasserflasche oder das Öffnen von kleinen Knöpfen an Hemden und Blusen, beeinträchtigt oder gar unmöglich sein.
- Grad 3 bedeutet eine weitere Steigerung der Behinderungen. Starke Schmerzen und/oder ausgeprägte Beschwerden machen es den Patientinnen unmöglich zu arbeiten oder Aktivitäten des täglichen Lebens auszuführen. Die Unterscheidung zwischen Kälte und Wärme ist häufig kaum oder gar nicht mehr möglich – Leitsymptome sind Taubheitsgefühl, Kribbeln und Schmerzen.
Die Hilotherapie®
Bei der Hilotherapie® handelt es sich um ein computergesteuertes, gradgenaues Thermoheilverfahren. Das Gerät ist ausgestattet mit Hand-/Fußmanschetten und ist mit demineralisiertem Wasser befüllt. Es kann auf eine gradgenaue Kühltemperatur eingestellt werden und ermöglicht eine kontinuierliche Kühlung der Extremitäten. Durch die Kühlung ziehen sich die Nerven versorgenden Blutgefäße zusammen (Vasokonstriktion) und die Durchblutung der Akren (Hände und Füße, Finger- und Zehenspitzen) wird reduziert. Damit gelangen weniger toxische Substanzen an die Nervenendigungen in den Extremitäten. Auch der Sauerstoffbedarf des Gewebes sowie der Stoffwechsel werden reduziert, und die Nerven an Händen und Füßen weniger verletzt. Darüber hinaus vermindert sich der Austritt von Chemotherapeutika über die Schweißdrüsen (Reduktion der Entstehung des Hand-Fuß-Syndroms) und Schmerzrezeptoren werden positiv beeinflusst.
„Patienten mit einer taxanhaltigen Chemotherapie nutzen bei uns die Hilotherapie® vorbeugend. Mit einer Temperatur von 10–12 °C werden Hände und Füße kontinuierlich 30 Minuten vor Beginn, während und bis 60 Minuten nach der Chemotherapie gekühlt. Die Patienten empfanden diese Kühlung als wesentlich angenehmer als herkömmliche Kälteträger“.
Hilotherapiegerät ChemoCare mit Hand-Fuß- Manschetten
Verschiedene Praxen und Kliniken bedienen sich konventioneller Kälteträger wie unter anderen Eishandschuhe und Eispads, um während der Chemotherapie Hände und Füße zu kühlen. Die aggressive Kälte von Eispads, die aus einer Gefriertruhe mit bis zu -20°C kommen, ist für viele Patienten jedoch nicht tolerabel und gewährleistet keine kontinuierliche Kühlung der Hände und Füße. Ebenfalls müssen die Kälteträger während der Therapie ausgetauscht werden, da sie die Temperatur nicht halten. Dies ist unpraktikabel für das Pflegepersonal.
Die Ergebnisse
„Wir haben Daten von 172 Patientinnen ausgewertet. 130 Patientinnen entschieden sich für die prophylaktische, vorbeugende Anwendung des Thermoheilverfahrens (Abb. 1).
Abb.1: Verteilung der Patientinnen
Primäre prophylaktische Kühlung: vorbeugende Kühlung von Händen und Füßen mithilfe der Hilotherapie® während jeder Chemotherapie
Sekundäre Kühlung: reaktive Kühlung erst nach Auftreten erster Symptome von CIPN für alle restlichen Chemotherapiezyklen
Beobachtung: keine Kühlung zu keiner Zeit
Die Patientinnen kühlten Hände und Füße bei jeder Chemotherapiebehandlung, beginnend mit der ersten taxanhaltigen Chemotherapie. Nur acht Patientinnen entwickelten kurzfristig Symptome der CIPN mit Schmerzen und Beeinträchtigungen im Alltag (Grad 2), eine Patientin gab den Toxizitätsgrad 3 an (Abb. 2). Da die Symptome nicht anhaltend waren, konnte die Chemotherapie mit geplanter Dosierung im geplanten Zeitintervall weitergeführt werden. Vier Wochen nach der letzten Therapie reduzierte sich die Anzahl der Patientinnen mit einer Grad 2 Toxizität nochmals – jetzt gaben nur noch fünf Patientinnen eine vorübergehende Grad 2 Toxizität an, keine Patientin litt unter Grad 3 Symptomen (Abb. 2).“
Abb. 2: Entwicklung der CIPN während der Chemotherapie
Höchster Grad der Nebenwirkungen: Auftreten von CIPN Symptomen trotz prophylaktischer Hilotherapie®
End of Treatment: Vier Wochen nach letzter Chemotherapiegabe
„Zusammenfassend wurde beobachtet, dass von den Patientinnen, die das kontrollierte Thermoheilverfahren vorbeugend angewandt haben, 93 % ohne limitierende Symptome verblieben. Sie waren zu keiner Zeit in ihrem Alltag negativ beeinträchtigt. Wir mussten bei keiner unserer Patientinnen eine Dosisreduktion vornehmen oder die Chemotherapie vorzeitig beenden. Vier Monate nach der letzten Chemotherapie waren bereits 98 % unserer Patientinnen ohne limitierende Symptome. Die Ergebnisse zeigen sich als nachhaltig: Sieben und zehn Monate nach Ende der Chemotherapie sind weiterhin 97–98 % unserer Patientinnen ohne Beschwerden (Abb. 3)“.
Abb. 3: Langzeitentwicklung der CIPN nach Abschluss der Chemo- und prophylaktischen Hilotherapie®
42 Patientinnen begannen ihre Chemotherapie ohne prophylaktische Kühlung (Abb. 1).
In dieser zweiten Gruppe konnte gezeigt werden, dass ohne kontrollierte, vorbeugende Hand-Fuß-Kühlung, 91 % der Patientinnen Symptome der CIPN entwickelten (Abb. 4).
Abb. 4: Entwicklung der CIPN ohne prophylaktische Hilotherapie®
Ohne prophylaktische Kühlung entwickelten 90 % der Patientinnen Symptome der CIPN: 34 % bereits im 1. Drittel, 37 % der Patientinnen im 2. Drittel und 29 % im 3. Drittel
Diese Patientinnen kühlten nach Auftreten der Symptome ihre Hände und Füße (sekundäre, reaktive Hand-Fuß-Kühlung) für alle noch ausstehenden Chemotherapiezyklen und konnten sowohl ein Fortschreiten der Symptomatik verhindern, als auch eine Linderung erfahren (Abb.5 + 6).
Abb. 6: Sekundäre, reaktive Hilotherapie®
Der Einsatz der sekundären, reaktiven Hilotherapie nach Einsetzen der CIPN verhindert das fortschreiten der Symptome und lindert diese.
Rund 200 Patientinnen nutzten bereits dank der Selbsthilfegruppe ISI e. V. die vorbeugende Kühlung mittels des Thermoheilverfahrens. Schwere, nicht reversible Ausprägungen der Chemotherapie-induzierten Polyneuropathie (CIPN) konnten vermieden werden. Die Langzeitprognose für viele Patientinnen mit einer Krebserkrankung hat sich durch viele innovative Therapiekonzepte in den letzten Jahren stark verbessert, daher sollte auch die Vermeidung schwerer Langzeitkomplikationen, die die Lebensqualität der Patientinnen stark beeinflussen, mehr in den Fokus gesetzt werden.
Fazit
„Erfreulicherweise hören immer mehr Patientinnen und auch behandelnde Ärzte von dieser Methode und wenden sie an. Wir hoffen, dass die Therapie bald nicht nur in vielen Kliniken und Praxen angeboten wird, sondern dass sich auch bald die Krankenkassen an den anfallenden Kosten beteiligen werden, zumal die Anwendung für Patientinnen und Pflegepersonal so simpel ist“.
Kontakt:
Dr. rer. nat. Trudi Schaper
Leiterin der Studienzentrale am Brustzentrum Luisenkrankenhaus, Düsseldorf
und Vorsitzende Internationale Senologie Initiative ISI e.V.
schaper@luisenkrankenhaus.de
0172-867 64 63